Das erste Mal

 

Noch mal die frische Winterluft einatmen, noch mal ein kurzer, verschämter Blick, dass mich nur niemand hier verschwinden sieht. Ich kann keine Spione entdecken und schlüpfe unerkannt durch die Eingangstür. Ein dicker, handgemalter Pfeil ermahnt mich, in den ersten Stock zu gehen. Ich versuche leise zu sein, aber auf der stählernen Treppe hört man jeden Schritt, so dass ich beim Hinaufsteigen nicht verhindern kann, Lärm zu machen. Oben angekommen, gehe ich durch einen langen Gang, schaue rechts und links an verschlossene Türen, um nicht die Orientierung zu verlieren. Wenn ich Glück habe, finde ich es ja nicht, dann kann ich wieder zurückgehen... es wäre nichts passiert. Aber es muss etwas passieren und ich versuche mich aufzumuntern, dass ich nicht drum herum kommen werde und suche weiter. Es ist schon verrückt, wenn man Angst davor hat, dort anzukommen, wo man hin muss, dann ist es meistens das letzte Haus, die letzte Tür, der weiteste Weg. Man wird das Gefühl nicht los, dass es irgendjemanden geben muss, der sich heimlich darüber lustig macht. Gut, nun stehe ich dann doch vor der richtigen Tür. Sie ist bedrohlich groß und wuchtig, so dass ich überlege, ob es mir lieber ist hineinzugehen oder von ihr erschlagen zu werden. Ich bleibe kurz stehen, wische mir den Angstschweiß aus den Händen und trete vorsichtig ein. Dann stelle ich mich schüchtern vor die Anmeldung. Dahinter kramt eine beschäftigte Dame in ihren Unterlagen. Sie zieht Regale auf, nimmt Patientenpapiere heraus, kritzelt darauf herum und steckt andere wieder ein. Dann setzt sie sich an eine 100 Jahre alte Schreibmaschine, schlägt im Zweifingersuchsystem auf sie ein und lässt mich einfach stehen. Ich sehe ihr zu... kein Pieps. Sie muss mich doch bemerkt haben. Aber ich bin schüchtern, so warte ich geduldig. Nachdem sie alle wichtigen Dinge erledigt hat, schaut sie so ruckartig auf, dass ich zusammenzucke, weil ich erschrecke. „Bitte?“ sagt sie unnötig laut, dass alle Damen, die im Wartezimmer sitzen, zu uns herüber sehen. Ich fühle mich ertappt und denke, warum schreit die so. „ Ich bin das erste mal hier, ich möchte...“ Doch sie hat keine Nerven, sich meine vor Aufregung zappelnden Worte anzuhören und unterbricht mich. Das macht mich nur noch unruhiger. „Ihren Ausweis!“ fordert sie. Ich schiebe mein grünes Buch über die Anmeldung und sehe zu, wie sie es interessiert inspiziert. „Nehmen Sie da drüben Platz, Sie werden aufgerufen!“ Ich hätte so sehr ein wenig Zuspruch benötigt. Ein wenig Verständnis nur für meine Unsicherheit und meine Angst vor dieser neuen Situation. Sie könnte meine Mutter sein, doch wenn sie es wäre, würde sie mir über die Haare streichen und mir sagen, dass alles gut werden würde. Doch diese Frau ist so routiniert, hat so vielen jungen Mädchen gesagt, dass sie sich einfach in den Warteraum setzen sollen, dass sie entweder nicht mehr wissen kann wie es mir geht, oder sie hat keine Zeit, sich um meine Empfindsamkeit zu bemühen. Ich kann sie verstehen. 1979. Das erste Mal beim Frauenarzt. Ich habe die Fähigkeit, alle Menschen zu verstehen. Das ist manchmal gut und manchmal eine nüchterne Erfahrung. Sie gibt mir das Gefühl, mich in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen. Wundervoll, die Bedürfnisse anderer zu verstehen und dennoch furchtbar, die eigenen deswegen zurückzunehmen. Ich setze mich artig in den Warteraum. Dort sitzen mit mir einige Frauen. Manche haben dicke Bäuche und streichen liebevoll darüber, als würden sie sich mit ihnen unterhalten. Eine von ihnen schmunzelt mich an, sie hat mich durchschaut. Ich spüre, wie mir die Schamesröte in´s Gesicht steigt. In unterschiedlichen Abständen werden die Frauen in die Kabinen gerufen. Schwerfällig tapsen sie hinein, kommen später leichtfüßig wieder heraus, froh darüber, dass mit dem Kind alles in Ordnung ist. Nach gut einer Stunde bin ich auch an der Reihe. Ich hüpfe hastig in meine Kabine, als wäre es ein Ausweg. Es ist keiner. Sie ist sehr klein. Ein Tischlein steht darin und ein winziger Hocker. Was soll ich tun? Niemand hat mich beraten, wie ich mich verhalten muss. An der Wand hängt ein Schild, auf dem steht: „Bitte den Oberkörper frei machen, die Schlüpfer ausziehen und die Schuhe anlassen!“ Also ziehe ich mich aus. Ich beeile mich, weil ich fertig sein möchte, wenn der Arzt mich herein ruft. Dann setze ich mich auf den Korbhocker, der mir ein lustiges Muster auf den Hintern drückt. Ich habe die Vorschriften auf dem Schild befolgt, bin splitternackt. An den Füßen trage ich meine Wildlederstiefel, die mir bis an die Knie reichen. Mir wird kalt und irgendwie fühle ich, dass etwas an meinem Aussehen nicht stimmt. Es muss doch zum Totlachen aussehen, nackt mit Stiefeln. Da wird der Arzt seine Freude an mir haben. Dann klopft es, der Arzt öffnet mir die Tür. „Bitte“. Ich schnappe mein Handtuch und trete ein. Als er und seine Arzthelferin mich sehen, verharren sie in ihren Bewegungen wie in einer Pantomime. Einen Moment lang überlege ich, ob sie mich so anstarren, weil ich so schön bin in meiner unverbrauchten Jugend, oder ob die Komik meiner Bekleidung sie so staunen läßt. Nur ihre Augen bewegen sich. So wie sie mich von unten bis oben anschauen, steigt mir die Hitze vom Zeh bis ins Gehirn. Der Arzt hat schon genug schöne Frauen gesehen und daher liegt wohl auf der Hand, dass nur das andere in Betracht kommt. Dieses blöde Schild kann ja demnach nur ein schlechter Witz sein. Mann, bin ich wütend. Der Herr Doktor ist ein langer, grauhaariger, dennoch jugendlich wirkender Mann. Er blickt immer noch über seinen Brillenrand, als hätte er ein seltenes Exemplar „Frau“ zu Gesicht bekommen. Seine Assistentin steht mit halb geöffnetem Mund. Die Unterlagen in ihrer Hand drohen herunter zu fallen, so erstarrt ist sie von meinem Anblick. So, nun könnt ihr euch ja mal wieder einkriegen und wenn ihr schon Schilder schreibt, dann wundert euch nicht, wenn sie „einmal“ befolgt werden. Als erstes hat sich der Arzt wieder gefangen. Er bittet mich, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen und an seiner Stimme kann ich hören, dass er sich verkneifen muss, laut loszulachen. Eigentlich wäre es das Beste gewesen, wir hätten alle laut gelacht, dann wäre es für alle witzig gewesen. Nun bin ich inzwischen völlig verkrampft. Die beiden versuchen sich von meinem Anblick zu lösen und gehen beschäftigt ihren Aufgaben nach. Der grauhaarige Jugendliche setzt sich hinter seinen Schreibtisch und stellt mir verschiedene Fragen. Die Frage, ob ich das erste Mal beim Frauenarzt bin verkneift er sich, er ahnt es wohl. „Wann war ihre erste Regel?“ Oh auch das noch. Ich will nicht zugeben, dass es erst vor 6 Wochen war und höre mich sagen „mit 14 Jahren“ Er schreibt alles auf und untersucht mich dann. Wie unangenehm. Als er mein Korbmuster auf den Pobacken entdeckt gibt’s noch mal was zu lachen. Dann erhalte ich mein Rezept für die Pille und kann gehen. Eigentlich ein schöner Augenblick für eine junge Frau wie mich, doch mir ist alles nur peinlich und ich schleiche davon wie ein Dieb, der unauffällig die Praxis ausgeräumt hat, mit dem Wunsch, nie wieder hier her zu müssen.